Industrialisierung


Fabel von Wolf und Hund

Ein Hund verließ nachts seinen Körper, seine Käfig und das Labor und ging im Wald spazieren. Dort traf er einen Wolf, der sprach: Es gibt schon alles, also kann man nur mit dem umgehen, was schon vorhanden ist. Aber wie denkst du dann über das, was du tust? fragte der Hund. Ironisch, sagte der Wolf. Ich verstehe, antwortete der Hund, nun muss ich mich verabschieden. Morgen wird ein langer Tag und ich muss sterben. Nur das Eine noch: Ich habe auch schon Alles gesehen, aber es war so dunkel, dass ich nichts erkennen konnte.


„Aufstand der Haustiere“
(Auszug)

von
Thomas Macho

Erst jene Umwälzungen menschlicher Lebensordnungen, die von der Industriellen Revolution ausgelöst wurden, haben dem agrarischen Spiel der tierisch-menschlichen Ambivalenzen und Metamorphosen ein Ende gesetzt. Spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurden historisch festverwurzelte Traditionen durch funktionale Institutionalisierungsprozesse abgelöst; die ständischen Gesellschaften wurden von einer Gesellschaft der „Disziplinen“ (nach Foucault1) überwunden. An die Stelle von Geburtsrechten traten allgemeine Menschenrechte, an die Stelle von extrem diversifizierten Hierarchien kompromissfähige Interessenvertretungen; regional differenzierte Ausbildungssysteme (Endo-Sozialisation) wurden durch Alphabetisierungsprogramme und allgemeine Schulpflicht (Exo-Sozialisation2) ersetzt, die alten Berufsheere durch die Levée en masse. Sesshaftigkeit verlor zunehmend ihre Bedeutung zugunsten einer neuartigen Mobilität, die sich an den Migrationsbewegungen des Kapitals (wie vormals an den Wanderungen der Tierherden) orientieren musste; diachrone Anschauungen und genealogische Prinzipien wurden von synchronen Perspektiven (etwa im Horizont medientechnologischer Vernetzungsprozesse) relativiert oder völlig aufgehoben. Die agrarische Logik der Differenzierungen wurde von egalitaristischen Homogenisierungsschüben außer Kraft gesetzt. „Modernisierung“ – so lautet jedenfalls der gängige Titel, den wir dem Übergang zwischen zwei Gesellschaftsordnungen verliehen haben: dem Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft. „Erstere stellt eine soziale Ordnung dar, die kulturelle Verschiedenheit propagiert und ein komplexes Rollensystem externalisiert. In einer Industriegesellschaft dagegen beherrschen Mobilität, Anonymität und der semantische Charakter menschlicher Arbeit das Leben.“3

Die Industrielle Revolution verdankte ihre beispiellose Dynamik der unbegrenzten Nutzung fossiler Energieträger (wie Kohle oder Erdöl). Mit diesen Stoffen stand „plötzlich und kurzfristig weit mehr Energie für menschliche Zwecke zur Verfügung, als vom herkömmlichen Solarenergiesystem hätte bereitgestellt werden können. So besaß man Brennstoffe in einem Umfang, der weit über das hinausging, was an nachwachsender Biomasse zugänglich war. Dies ist historisch – vielleicht sogar erdgeschichtlich – einmalig. Zwar mag es immer wieder Agrargesellschaften gegeben haben, die mehr Holz verbrauchten, als im gleichen Zeitraum auf ihrem Territorium nachwuchs, doch wurde ein solches Verhalten recht bald durch eine rapide Verschlechterung der Waldbestände bestraft, so daß man darauf nicht eine ganze Gesellschaftsstruktur hätte etablieren können. Auch eine länger anhaltende Übernutzung des Bodens wäre damit vergleichbar, die es erlaubt, für einige Zeit mehr pflanzliche Nahrung zu gewinnen, als der Boden wirklich dauerhaft hergibt. Die tatsächliche Tragfähigkeit des Landes machte sich dann aber irgendwann in deutlichen Ertragsminderungen bemerkbar.“ Zwar sind die Ressourcen an fossilen Energieträgern keineswegs unerschöpflich, wie wir inzwischen wissen: aber sie sind eben auch nicht aktuell limitiert. Darum muß ein eklatanter Energieüberfluß als wichtiges „Charaktermerkmal des fossilenergetischen Systems“ gelten, während gewisse Eigenschaften von Jäger- und SammlerInnen- sowie von Agrargesellschaften daraus abgeleitet werden können, „daß man mit Energie besonders haushälterisch umgehen“ mußte. Erst die „enorme Energiefülle im Industriesystem führte zur Bildung von Verhaltensstrukturen, die vom energetischen Standpunkt aus absurd erscheinen.“ Transportprobleme, die in agrarischen Gesellschaften etwa nur durch behutsame Planung (und aktive Mitwirkung von Tieren) gelöst werden mußten, ließen sich im industriellen Zeitalter jahrzehntelang geradezu verschwenderisch behandeln. „Waren z.B. Siedlungsstrukturen und Raumordnungen in solarenergetischen Gesellschaften nach dem Prinzip der Minimierung des Transportaufwands angelegt, so wurde Transport spätestens seit der Durchsetzung der Mineralölwirtschaft eine Angelegenheit, die fast gratis war. Beim Ausbau von Verkehrssystemen spielte der Energieverbrauch keine Rolle mehr.“ Selbst in die Landwirtschaft wurde weit mehr fossile Energie investiert, als sich zurückgewinnen ließ. Unter Bedingungen des Industrialismus hörte die Landwirtschaft auf, ein solarenergetisches System zur Energiegewinnung zu bilden, um sich in ein fossilenergetisches System der bloßen Stoffumwandlung zu transformieren: „Sie verwandelt Kohlendioxid, Wasser und Mineralstoffe in mehr oder weniger schmackhafte Nahrung, wobei die Energiequelle aber per saldo fossil ist.“4

Wie auf der Hand liegt, begann sich auch die kulturelle Wahrnehmung der Tiere im Lauf der Durchsetzung industrieller Lebens- und Organisationsformen dramatisch zu verändern. Der schrankenlose Einsatz fossiler Energieträger bewirkte zunächst einmal, daß immer mehr Arbeitsleistungen der Tiere restlos substituiert werden konnten. Die Ochsen wurden durch motorisierte Traktoren, durch Mähdrescher und andere landwirtschaftliche Maschinen ersetzt, die Ziegen und Schafe durch die Produktion synthetischer Bekleidung. Die Kavallerie wurde gegen Panzerdivisionen ausgetauscht; zunehmend wurden die ehemals „ritterlichen“, militärisch idealisierten Tiere zu Zugtieren degradiert, die allenfalls jene Gulaschkanonen schleppen durften, in denen sie bei Bedarf gekocht und an die Soldaten verfüttert werden konnten. Die Kutschen wichen den Eisenbahnen und Automobilen, die Lasttiere den Kränen und Baggern, die Brieftauben den Computern und Telefonen. Wollte man die Grundtendenz in gebotener Knappheit erfassen, so müßte sie als Überbietung agrarischer Maschinen durch „automatische“, möglichst selbständig arbeitende industrielle Maschinen thematisiert werden. Diese „Verbesserung“ der agrarischen Maschinen läßt sich auch als progressive Eliminierung der Tiere beschreiben. Seit wenig mehr als zwei Jahrhunderten hat sich ein schleichender Ausschluß der Tiere aus allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen vollzogen; und wer jetzt im Namen seiner Perserkatze oder seines Kanarienvogels protestiert, weiß nicht einmal mehr, wovon überhaupt gesprochen wird. Zwar wurden gelegentlich neue Tätigkeitsfelder für Nutz- und Haustiere erschlossen – beispielsweise in der Suchtgiftfahndung; doch läßt sich umstandslos vorstellen, daß auch diese „Beschäftigungstherapie“ für ansonsten „arbeitslose“ Schäferhunde demnächst durch perfektionierte Drogendetektoren überflüssig gemacht werden könnte.

Die gesellschaftliche Eliminierung der Nutztiere reduzierte die Tiere schlagartig auf eine einzige Funktion, die noch kein Wild- oder Haustier jemals zuvor in vergleichbarer Größenordnung erfüllen musste: auf die Funktion des Massenschlachtviehs. Sobald die Tiere nicht mehr gebraucht wurden, konnten sie verzehrt werden; alle Züchtungsinteressen ließen sich auf einen einzigen Nenner bringen, sobald einmal feststand, dass die Tiere nichts anderes mehr „leisten“ sollten, als möglichst rasch möglichst dick und fett zu werden, um als bratfertiges Kotelett oder Schnitzel in der Pfanne landen zu können. Der Schlachthof bildete das präzise Pendant des Energieüberflusses, der durch die Nutzung fossiler Energieträger ermöglicht wurde: einen schier unermüdlichen Betrieb zur Herstellung von Fleischmahlzeiten, eine Opferungsmaschine ohne jegliches Opferritual. Napoleon Bonaparte ließ die ersten Schlachthöfe in Paris erbauen: 1807 erging sein Dekret, mit dem er die Errichtung öffentlicher Schlachthausanlagen befahl. Sämtliche Fleischer wurden verpflichtet, künftig an keinem anderen Ort mehr zu schlachten. „Auf diese Weise entstanden fünf Schlachthäuser außerhalb der ehemaligen Stadtmauer, drei nördlich und zwei davon südlich der Seine. 1810 erließ Napoleon ein zweites Dekret, in dem er verlangte, daß in allen Städten Frankreichs öffentliche Schlachthäuser gebaut werden sollten, und zwar außerhalb der Stadtgrenzen.“ Schon fünfzig Jahre später wurden intensive Anstrengungen unternommen, um die napoleonischen Schlachthöfe durch einen funktionstüchtigeren Neubau zu ersetzen. George Eugéne Haussmann, der mächtige Präfekt des Seine-Departements, investierte mehr als 23 Millionen Francs in die Errichtung des Zentralschlachthofs von La Villette, der am 1. Januar 1867 – im Jahr der Pariser Weltausstellung – eröffnet wurde. La Villette war „der erste zentrale Schlachthof für eine Millionenbevölkerung. Seine Ställe konnten nach Haussmanns Aussage „so viele Tiere aufnehmen wie Paris im Laufe mehrerer Tage verzehrte“.“ In seinen Memoiren bemerkte Haussmann, die „große Anlage“ sei eine „der bedeutendsten von meiner Verwaltung durchgeführten Arbeiten, von gleichem Range wie die großen Straßenbauten“. Zur selben Zeit jedoch, in der Haussmann den Zentralschlachthof von La Villette planen und erbauen ließ, wurde in Chicago der Beschluß gefaßt, den bis dahin größten Viehmarkt und Schlachthof zugleich zu errichten – die sogenannten Union Stock Yards. In den unübersichtlichen Holzhallen und Lagerschuppen, verbunden durch Gänge, Straßen, Treppen, Hängebrücken, durchquert von mehr als hundert Meilen Eisenbahngleisen, wurden bald über fünf Millionen Schweine jährlich geschlachtet. Die tägliche Leistungsfähigkeit der Anlage betrug damals sogar „ungefähr 200.000 Schweine, eine Zahl, die La Villette in jener Periode während eines ganzen Jahres nicht erreichte“. Schlachterei am Fließband. Wie Sigfried Giedion betont, wurde in den Schlachtstätten Cincinnatis und Chicagos jene Technik der maschinellen Massenvernichtung entwickelt und erprobt, die – als „Mechanisierung des Tötens“ – spätestens im Zweiten Weltkrieg ermöglichte, daß „ganze Bevölkerungsschichten, wehrlos gemacht wie das Schlachtvieh, das kopfabwärts am Fließband hängt, mit durchtrainierter Neutralität ausgetilgt wurden“.5 Die Menschen haben einander stets angetan, was sie den Tieren anzutun pflegten.

Dem rapiden Wachstum der Schlachthöfe in Frankreich und Amerika entsprach auf der anderen Seite ein ebenso bemerkenswerter Anstieg intellektueller Tierliebe und geradezu nostalgischer Zoophilie. Die neuerdings „nutzlosen“ Haustiere kehrten in die Metropolen zurück – als Zoo- und Schoßtiere, als idealisierte „pets“. Maurice Agulhon hat diesen Prozeß, der sich in Paris spätestens seit der Revolution von 1830 durchzusetzen begann, am Beispiel der Pferde analysiert: „Zur Zeit der Juli-Monarchie war das Martyrium der Pferde, der Zugpferde, die, vor einen Karren oder efinen schweren Wagen gespannt, den Mißhandlungen eines brutalen Fuhrmanns ausgesetzt waren, geradezu ein Gemeinplatz geworden. Man könnte fast den Eindruck haben, sämtliche Fuhrunternehmer von Paris hätten ihre Pferde einem rohen, ungehobelten, unqualifizierten Subproletariat ausgeliefert, das kein anderes Instrument kannte als die Peitsche und Beschimpfungen; übrigens kennen wir noch heute in der Umgangssprache die Wendung „jurer comme un charretier“ („fluchen wie ein Fuhrmann“). Wenn ein Pferd unter der übermäßigen Last oder aufgrund eines Unfalls zu Boden stürzte, half der Fuhrmann dem Tier nicht, indem er es ausspannte oder die Last verringerte; vielmehr zwang er es durch Fußtritte in den Bauch, unter größten Anstrengungen selbst wieder auf die Beine zu kommen.“6 Mehrere Dichter haben diese Szene eindringlich beschrieben: Victor Hugo, Eugène Sue, und insbesondere Dostojewskij.7 Literarische Zeugnisse entwarfen im Verein mit öffentlichen Tierschutzdebatten „zahllose Bilder dieser Art, als wären sie in den Großstädten um 1840 ebenso alltäglich gewesen wie heute Verkehrsstauungen und „Verkehrsunfälle mit Blechschäden“.8 Der Vergleich ist aufschlußreich – er thematisiert den möglichen Zusammenhang zwischen dem sympathetischen Mitleid für die Pferde und der technologischen Revolution des Verkehrs, die tatsächlich zu einer vollständigen Ersetzung der Zug- und Lasttiere führen sollte. Noch bevor das erste Gesetz zum Schutz der Haustiere und insbesondere der Pferde – auf Initiative des Generals Jacques-Philippe Delmas de Grammont im Jahre 1850 – beschlossen wurde, fuhren schon die ersten Eisenbahnen. 1825 wurde eine Dampfeisenbahn zwischen Darlington und Stockton (England) in Betrieb genommen; die erste kontinentale Dampfbahn wurde 1835 zwischen Brüssel und Mecheln eingerichtet. 1839 wurde die Strecke Leipzig-Dresden (115 km) eröffnet; und 1850 verfügte Deutschland bereits über 5470 km Eisenbahngleise. Im Jahr 1868, kurz nach Eröffnung von La Villette, wurde das erste „Motorrad“ vorgestellt – eine Dampfmaschine auf einem Fahrradgestell. Ab nun konnten Fahrzeuge, die von eigener Maschinenkraft angetrieben wurden, das „Rennen machen“, während die Pferde aus dem Stadtbild verschwanden. Nicht zufällig waren übrigens die Pferdebahnen (im Bergbau) das eigentliche Vorbild der Eisenbahnen; nicht zufällig auch wird die Leistungsstärke eines Automobils bis heute noch in PS, in Pferdestärken, angegeben.

Die Tiere (oder Menschen) wurden durch den neuen Maschinentypus überholt. Die Arbeitsenergie der Zugtiere, aufgebaut und erhalten durch Nahrung, die ihrerseits erzeugt wurde in der (mehr oder weniger intensiv beeinflussten) Zyklik des solarenergetischen Systems, konnte substituiert werden durch fossile Energie: Kohle, Benzin, Treibstoffe aller Art. In gewisser Hinsicht wurde die energetische Leistung der lebenden Tiere (oder Menschen) übertroffen durch die Leistung ehemals lebendiger Pflanzen oder Tiere. Wollte man eine gewagte Spekulation entwickeln, so müsste man behaupten, die „toten Tiere“ hätten über die „lebenden Tiere“ gesiegt. Der „Tiger“ wurde buchstäblich „in den Tank gepackt“ – und zugleich als kulturelles „Projekt“, als Logo und Fantasy-Topos neu entdeckt. (…)

Anmerkungen

1 Vgl. beispielsweise Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976. Seite 173-292.

2 Ernest Gellner hat die Unterscheidung zwischen Agrar- und Industriegesellschaften insbesondere aus der Differenz zwischen Endo- und Exosozialisation abzuleiten versucht. Vgl. Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne. Berlin: Rotbuch 1991.

3 Ernest Gellner: Jenseits des Nationalismus? Kulturelle Homogenität und Vielfalt in modernen Gesellschaften. In: IKUS-Lectures 3+4. Wien: Institut für Kulturstudien 1992. Seite 39.

4 Rolf Peter Sieferle: Der unterirdische Wald. Energiekrise und Industrielle Revolution.. München C.H.Beck 1982. Seite 62-64.

5 Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1982. Seite 238-241 und 277.

6 Maurice Agulhon: Das Blut der Tiere. Das Problem des Tierschutzes im Frankreich des 19. Jahrhunderts. In: Der vagabundierende Blick. Für ein neues Verständnis politischer Geschichtsschreibung. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt/Main: Fischer 1995. Seite 119.

7 Vgl. Raskolnikows Traum von der Pferdetötung im ersten Teil von „Schuld und Sühne“: Fjodor M. Dostojewskij: Schuld und Sühne. Übersetzt von Richard Hoffmann. München: Winkler 1990. Seite 72-79.

8 Maurice Agulhon: Das Blut der Tiere. A.a.O. Seite 119.


„Das Mensch-Tier-Verhältnis in der kritischen Theorie“
(Auszug)

von
Moshe Zuckermann

Die Zivilisation im Sinne einer Reproduktion der Bedingungen für das Fortbestehen des Menschen ging von Anbeginn einher mit der Beherrschung der Natur. Diese Beherrschung der Natur ging notwendig mit einer Entfremdung von der Natur einher. Daraus leitet sich auch eine Beherrschung der inneren Natur ab, mithin der physiologischen Impulse des Menschen als ein Tier. Nicht zuletzt darin liegt die Entfremdung des Menschen von sich selbst begründet. (…) Man kann eine Philosophie der Tiere entwerfen und fragen, ob dabei vom Menschen die Rede ist oder vom Tier. Für die Frankfurter Schule würde ich in Anschlag bringen, dass beide Bewegungen da sind: Eine, die im Grunde genommen vom Tier redet, um über den Menschen zu reden, und eine andere, natürlich nie sich in das Tier hineinversetzende, aber als das Tier in seinem So-Sein imaginierende. Die eine sagt: Wie schön wäre es, wenn man nur wie das Tier wäre! Das heißt also beispielsweise, sich eine Welt vorzustellen, in der das Unbegriffliche den Menschen die Hingegebenheit an sein Anderes ermöglichen würde. Das würde bedeuten, dass man einen Topos der Romantik nachbetet – die Selbstvergessenheit, die Hingegebenheit an das Objektive als das tierische Dasein. (…) Es geht um einen Zustand, der als Antithese zu der These des selbstbewussten Seins angeboten wird.(…) Eine ganz andere Frage wäre, ob die Frankfurter hier auch meinen, über das Tier selbst zu reden. Aber wie kann der Mensch anders denn als Mensch über Tiere reden? Welche Vorstellung könnte es geben, dass man über die Tiere in ihrer Ontologie redet, also aus der Perspektive des Tierseins? Das deutsche philosophische 19.Jahrhundert bot in diesem Zusammenhang den Vorschlag des Mitleids. Mitleid impliziert „mitleiden“ . Und dieser Begriff des Mitleidens mit dem Anderen, auch mit der Kreatur, ist philosophisch wieder bei Schopenhauer eingegangen – in eine große säkulare Mitleidsphilosophie, die sich auch der Frage des Mitleids gegenüber dem Tier widmet. Eine große Versündigung durch die Tötung des Tiers findet sich beispielsweise im Werk des vielleicht rigorosesten Schopenhauer-Anhängers des 19.Jahrhunderts, bei Richard Wagner.

Erstveröffentlicht in „Dem blutigen Zweck der Herrschaft ist die Kreatur nur Material“ – Die Frankfurter Schule und ihre Kritik der Naturbeherrschung unter besonderer Berücksichtigung des Mensch-Tier- Verhältnisses 2005, S.24 ff., Hrsg. TAN Hamburg / Stahlpress Medienbüro Hamburg



„Zur Verteidigung des tierlichen und menschlichen Individuums – Das Widerstandsrecht als legitimer und vernünftiger Vorbehalt des Individuums gegenüber dem Sozialen“
(Auszug)

von
Melanie Bujok

Der Fortschritt der Gesellschaft hin zu einem Besseren trug den Keim der Regression bereits in sich, als er durch die Beherrschung der Natur begründet wurde, anstatt damit, Natur zu begreifen.1 Diese zentrale These der kritischen Theorie der Frankfurter Schule schloss eine Kritik der Herrschaft über Tiere mit ein,2 die bei Marcuse besagt, dass „Herrschaft zur Befreiung hinzulenken“3 sei, dass die technische Umgestaltung der Natur und ihre geschichtliche Resultante der „doppelten“ Naturbeherrschung“ eine doppelte Naturbefreiung zu evozieren habe: die Befreiung der ‚inneren Natur‘ des Menschen von den repressiven gesellschaftlichen Zwängen, die ihm als ‚zweite Natur‘ erscheinen, sowie die Befreiung der äußeren Natur des Menschen – und somit im stringenten Weiterdenken auch die Befreiung der Tiere. In der kritischen Theorie Adornos und Horkheimers erfordert Befreiung den Willen zur geistigen Negation des Bestehenden, Widerspruchsgeist (bei Marcuse zudem politischen Widerstand), der den Betrug der Opferung tierlicher wie menschlicher Individuen für die unvernünftige Gesellschaft durchschaut. Der Betrug liege darin, dass die Naturbeherrschung nicht den blinden Naturzusammenhang beseitigte, um Natur in geschichtlicher Arbeit mit sich selbst zu versöhnen, sondern dass die menschliche Gesellschaft sich der Naturwüchsigkeit angepasst, diese nachgeahmt und rationalisiert habe.4 Der Schein des qua Naturbeherrschung erzielten Fortschritts rationalisierte aus der Sicht Horkheimers, Adornos und Marcuses auch die Beherrschung und Opferung von Tieren; „und das Kaninchen geht […] verkannt als bloßes Exemplar durch die Passion des Laboratoriums.“5 Die Institution des Opfers, eine „historische Katastrophe“, ein „Akt von Gewalt, der Menschen und Natur gleichermaßen widerfährt“,6 ist in der gegenwärtigen Gesellschaft akzeptiert, gleichsam ihr Selbstverständnis. Gegen Tiere gerichtete Gewalthandlungen erhalten die Weihe des Vernünftigen, im Sinne des Fortschritts gar des Notwendigen, so die Kritik der Vertreter der Frankfurter Schule, denn das zivilisationsgeschichtlich aus der Naturbeherrschung hervorgegangene menschliche Individuum erhofft, im Tod des tierlichen seine eigene Selbsterhaltung zu finden oder gar den eigenen Tod zu überlisten. Tierversuchslabore und Schlachthäuser sind die alten und neuen Opferstätten. Das Unrecht der Gewalt gegen Tiere als Recht der Gesellschaft der Menschen auf Selbsterhaltung umgedeutet, lässt jeden Einspruch als dumm und unsozial erscheinen. Die von der Kritischen Theorie eingeforderte „universale Solidarität“ wird auf die Solidargemeinschaft der Menschen reduziert – freilich dort auch nur als Schein bestehend. Die aus dieser Gemeinschaft Exkludierten werden zu stigmatisierten Fremden, deren Einbeziehung in die Idee einer universalen Solidarität die Außengrenzen der repressiven Gesellschaft gefährdet. Wer sich mit den Ausgegrenzten, Entfremdeten solidarisiert, wird selbst zum „Unvernünftigen“, „Fremden“, zum „Risiko“. Die bloße Existenz des Anderen birgt das Risiko, weil er das Anders-Mögliche bereithält, das vom absoluten System verleugnet wird, um sich selbst zu stabilisieren. „Die Existenz eines einzigen Unvernünftigen erhellt die Schande der ganzen Nation. Sein Dasein bezeugt die Relativität des Systems radikaler Selbsterhaltung, das man absolut setzt.“7

Aus dieser Sicht der Kritischen Theorie erklärt sich, weshalb die Präsenz von Tierbefreiern am Essenstisch ein Ärgernis ist. Die Tischgemeinschaft, ein mikrosoziales Abbild der Gesellschaft, wiederholt das Ritual der Naturbeherrschung, hier: der Unterwerfung des tierlichen Individuums als „Opfertier“ durch den Verzehr desselben. Das Fleisch sowie andere „Tierprodukte“ reflektieren als „verdichtete Symbole“8 die Macht der Gesellschaft der Menschen über „das Tier“.9 Wer sich der Komplizenschaft der Macht über Tiere verweigert, entsagt den interspezifischen Machtstrukturen. Wer kein Fleisch (und andere tierliche Körperteile) konsumiert, sitzt nicht am Tisch. Darum das Missfallen der Gesellschaft gegenüber „den Veganern“, darum wird ihnen mal Militanz, mal Krankheit, mal schlechter Geschmack angedichtet, weil sie so leibhaftig und darum nicht zu leugnen die Möglichkeit eines Lebens ohne tierliche Opfer beweisen und damit den „Bann“, den „Fetischcharakter der [tierlichen] Ware“10 gefährden. Wird die ‚Ware Tier‘ dekonstruiert, zeigt sich ihr Dingcharakter als eine Objektivation sozialer Verhältnisse und Interessen. Die Alltagspraxis der Konsumption von tierlichen Körperteilen, ihre geschichtliche Permanenz und Totalität lassen eine kritische Reflexion jedoch kaum zu – zu habitualisiert ist das Bewusstsein, zu eingeschliffen das Verhalten gegenüber Tieren als Verfügungsressource menschlicher Zwecke, zu immun die soziale Ordnung der Mensch-Tier-Beziehungen gegenüber Einwänden und Veränderungen. Mit den Worten der Frankfurter Schule ist ein Aufmerken des Bewusstseins aus dem Immergleichen – hier: des Angriffs auf tierliche Individuen – erschwert. (…)

Die Naturalisierung der sozialen Macht verschleiert ihren Konstruktionscharakter. Die Dissoziation vom „anderen Tier“ wäre dabei nicht so festgezurrt, nicht so permanent, würde sie nur kognitiv vollzogen. Die Festschreibung der Mensch-Tier-Dichotomie wird durch soziale Prozesse begünstigt, die Bourdieu als die „Somatisierung der Herrschaftsverhältnisse“ beschrieben hat. Per „Gewaltstreich der sozialen Welt“ wird den Körpern der Individuen ein „regelrechtes Wahrnehmungs-, Bewertungs-, und Handlungsprogramm [ein]geprägt“, das „wie eine (zweite, kultivierte) Natur funktioniert, d.h. mit der gebieterischen und (scheinbar) blinden Gewalt des (sozial konstruierten) Triebes oder Phantasmas.“11 Die Wahrnehmungs-, Bewertungs-, und Handlungsprogramme der sozialen Welt, denen die menschlichen Individuen ihre sozialisierten Körper vorreflexiv unterwerfen,12 werden von – wie Berger und Luckmann sie benannten – „legitimatorischen Stützkonzeptionen“13 bereit gestellt, das sind u.a. theoretische Konzeptionen. Inwieweit die vorherrschenden theoretischen Konzepte, die vor allem in den Sozialwissenschaften, zum Teil auch in der Philosophie und in den Naturwissenschaften, „Mensch“ und „Tier“ antithetisch gegenüberstellen, verzerrt sind, weil zumeist „Wahrnehmungs-, und Denkkategorien als Erkenntnismittel verwendet [werden], die er [der Analytiker] als Erkenntnisgegenstände zu behandeln hätte,“14 hat Bourdieu in einem anderen Zusammenhang problematisiert. Die angewandten Kategorien haben die Grenzen zwischen „dem Menschen“ und „dem Tier“ immer schon gezogen, weil sie eine soziale ist. Tierliche wie menschliche Individuen sind sich freilich nicht gleich. Aber eine „emanzipierte Gesellschaft[…] wäre […] die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen“, wäre also, wie Adorno sagt, eine Gesellschaft, in der man ohne Angst verschieden sein kann“.15 (…)

Da tierliche Individuen im Gegensatz zu menschlichen den sozialen Zwang der Menschengesellschaft nicht verinnerlichen, ist der Zwang gegen sie rein äußerlich – und damit besonders gewalttätig. (…) Das tierliche Individuum wird entindividuiert, anonymisiert, quantifiziert; und schließlich entkörperlicht, zerteilt, zugerichtet; so wird jeder Verweisungszusammenhang auf ein ‚Du‘ ausgelöscht und ein ‚Ding‘ hergestellt. Komplexe Handlungsketten und die Fragmentierung von Handlungsabläufen in der funktional differenzierten Gesellschaft machen eine Zuschreibung von Verantwortung unübersichtlich. Die Gewalttat wird zum Adiaphoron, zum Gleichgültigen, Irrelevanten; mögliche sich an der Gewalttat entzündende „moralische Impulse und Bewertungsmaßstäbe von Handelnden werden weitestgehend neutralisiert.“16 (…)

In seinem Aufsatz Materialismus und Moral hat Max Horkheimer das Ziel formuliert, das „Objektive“ der hinter den sozialen Normierungen stehenden Interessen bewusst zu machen und aufzuzeigen, inwieweit diese Interessen die Verwirklichung einer vernünftigen Gesellschaft fördern oder verhindern.17 Diese Gesellschaft könne ihrerseits nur als die Negation des Bestehenden, das das Schlechte, Negative ist, gedacht werden, ohne das eine Vermittlung hin zu einem Positiven möglich sei: „Auch im Äußersten ist Negation der Negation keine Positivität“,18 so Adorno. Denn da das „ganz Andere“, als das Horkheimer die vernünftige Gesellschaft begreift, durch die gesellschaftlichen Subjekte im Prozess der Geschichte hergestellt werden müsse – weil sie selbst in diese eingebunden sind -, die Geschichte aufgrund ihrer „Verfallstotalität“ jedoch keine konkreten Handlungsorientierungen liefern könne, bleibe nur die kritische Reflexion auf die bestehende Gesellschaft in Gegenüberstellung zu der gedachten vernünftigen Gesellschaftsform. Letztere sei anhand der Möglichkeiten, z.B. hinsichtlich des technologisch-wissenschaftlichen Potentials, zu reflektieren.19

Die Potentialitäten der globalen menschlichen Gemeinschaft der Gegenwart entziehen hierbei der Ausnutzung von Tieren ihren Behauptungsgrund Notwendigkeit zu sein, um Not zu lindern und Selbstbehauptung zu ermöglichen, und demaskieren Tierausbeutung als das, was sie ist: ein Geschäft. Damit ist jedoch – entgegen dem Pessimismus von Adorno und Horkheimer, eine vernünftige Praxis inhaltlich konkretisieren zu können – durch die Angabe, was sie in der jeweiligen gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit zu negieren habe, bezeichnet, was zu praktischen Überwindung drängt: „Man könnte sagen, was an der gegenwärtigen Gesellschaft das Schlechte ist, aber man könnte nicht sagen, was das Gute sein wird, sondern nur daran arbeiten, dass das Schlechte schließlich verschwinden würde“,20 so Horkheimer in seinem Vortrag Kritische Theorie gestern und heute im Jahre 1969. Deutlicher Marcuse: „Dass die Gewalt beseitigt und Unterdrückung soweit verringert wird, als erforderlich ist, um Mensch und Tier vor Grausamkeit und Aggression zu schützen, sind die Vorbedingungen einer humanen Gesellschaft“.21 Und an anderer Stelle: „[…] die Erfahrung und das Verständnis der bestehenden Gesellschaft können durchaus identifizieren, was nicht zu einer freien und vernünftigen Gesellschaft führt […]. Freiheit ist Befreiung, ein spezifischer geschichtlicher Prozeß in Theorie und Praxis und hat als solcher sein Recht und Unrecht, seine Wahrheit und Falschheit.“22 (…)

Wie ist ein allgemeines Interesse an der Befreiung der Tiere aus den Gewaltstrukturen der speziesistischen Gesellschaft heraus zu generieren, nachdem die Tiere selbst aufgrund ihrer faktischen Ohnmacht nicht Subjekte ihrer eigenen Befreiung sein können? Ihre Ohnmacht ist total und darum so entsetzlich grausam. Keine Gegenrede, die sie ihrer Bedichtungen durch die Gesellschaft entgegensetzen, keine Tat, mit der sie der gewalttätigen Hand der Tierausbeutungsindustrie entkommen könnten. Tiere können nicht einmal eine Ahnung davon haben, dass es Menschen gibt, die sich mit ihnen solidarisch erklären und für ihre Befreiung kämpfen. Kein Widerspruch, kein Widerstand, keine Flucht, keine konkrete Hoffnung – totalitäre Unfreiheit und Ohnmacht. Tiere wurden durch absoluten Zwang der menschlichen Herrschaft unterworfen; der Zwang ist ihnen, so wurde zuvor aufgeführt, äußerlich, nicht verinnerlicht. Darum liegen Tiere in Ketten, die ganz materiell sind. Für sie war die Gesellschaft der Menschen in keiner ihrer geschichtlichen Formen eine, die sie aus den Ängsten des so genannten Naturzustandes befreit hätte: der beständig latenten Drohung, Leib und Leben zu verlieren. Die menschliche Gesellschaft ist ihnen der „Naturzustand“. In dieser sind die meisten Tiere in absoluter Not. Ein Notstand, der allerdings in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr eine Grenzsituation kennzeichnet, sondern das Alltägliche, das Normale dessen, was für die einzelnen von der Gewalt betroffenen tierlichen Individuen das Äußerste, das schlimmste Übel ist.

Die dauerhaft betriebene Schmerzzufügung oder Schmerzerwartung bei so genannten Nutztieren, das Verlassensein, führt bei Tieren in Gefangenschaft in die Selbstaufgabe oder Raserei, wie sie in den modernen Tiergefängnissen häufig beobachtet werden kann. Letztlich führt sie – von außen betrachtet – zur Aufhebung der Individualität von Tieren: ihrer Eingrenzung auf Schmerz und Leid nach innen entspricht ihre Entgrenzung nach außen. Unterschiedslos werden Tiere in die soziale Umwelt eingepasst, so dass ihr Köper mit dieser eins zu werden scheint: er erscheint als amorphe „Biomasse“ in der „freien Natur“ und in „Tierhaltungsbetrieben“ als Einheit mit den Gitterstäben, mit dem Käfig, mit den Boxen, mit der Fabrik der Tierausbeutung, die den Körper von außen betrachtet zur ‚Tiermaschine‘ macht. Tiere werden als Anwesende abwesend, ihre Körper verschwinden, schon bei der „Tierhaltung“, endgültig bei der grausamen Zurichtung im Tierversuch, bei der Schlachtung, bei der Jagd usf. Die Folterung23 ihres Leibes und ihres Geistes ist bei der institutionalisierten Tierausbeutung (im Gegensatz zur privaten Gewalt gegen Tiere) nicht Zweck, sondern Mittel, um das Material des falschen Fortschritts zu erhalten und um Tiere beständig zu unterwerfen. (…)

Wo Gewalt ubiquitär ist, ist der Ausnahmezustand gesellschaftlich aufgehoben, ist Tyrannis, die sich als ‚gute Ordnung‘ verkleidet. Gewalt an Tieren wird semantisch als Produktion, Forschung, Naturschutz, Erlebnispark oder Show umbenannt, die Gewalttat sprachlich neutralisiert, um einer Skandalisierung, Dramatisierung und letztlich Politisierung zu entgehen.24 (…)

Da das wahre Sein von tierlichen Individuen, im Gegensatz zur Leidensfähigkeit (…) durch andere nicht unmittelbar erfahren werden kann, bleibt als Verpflichtung an die Wahrheit bei allen Mensch-Tier-Beziehungen (…) nur die Unterlassung aller absichtsvollen Freiheitseinschränkungen des Menschen gegenüber dem tierlichen Individuum. Das tierliche Individuum muss das „Unverfügbare“25 bleiben, weil jede Bestimmung seines Wesens und seines Wollens diesem Gewalt antun würde. Die Absage an institutionalisierte Gewalt gegen Tiere besteht in der Aufhebung des sozialen Zwanges gegen Tiere. Die Herrschaft über Tiere ist eine geschichtliche Realität, indes eine Katastrophe, keine naturgesetzliche Evolution. (…)

Die Verbannung der Tiere aus gesellschaftspolitischen Überlegungen in allen affirmativen Theorien wird trotz ihrer faktischen Vergesellschaftung (…) durch den Kniff eines Perspektivenwechsels begründet: den vom Gesellschaftszustand, der soeben beschrieben wurde, in den „Naturzustand“. Der „Naturzustand“, in dem sie sich selbst verteidigen könnten, eine zumindest gedankliche Symmetrie, oder wenigstens ein Chaos, in dem sie sich und ihre Haut retten könnten, wird aufgehoben; Tiere werden aber gleichzeitig in dem vergesellschafteten Zustand weiterhin als ‚Wölfe des Naturzustandes‘ behandelt, bekämpft, obwohl sie längst wehrlos sind. (…) Die Lebenswirklichkeit der Tiere ist inzwischen immer eine von Menschen geformte; ein räumliches Außerhalb gibt es nicht mehr, gab es ohnehin selten. Menschen und Tiere sind immer Bewohner gemeinsamer Räume gewesen, immer Zeitzeugen einer geteilten Geschichte, auch wenn sie den Tieren größtenteils übergestülpt wurde. Durch die existierende Verschränkung einer so genannten natürlich- geographischen Umwelt und der Sozialorganisation und Kultur der Gesellschaften, vor allem aber durch die Allgegenwart der Zerstörungswut des Kapitalismus, so wie des – in welcher geschichtlichen Form auch immer erscheinenden – Imperialismus und einen globalen Verfall alles Schönen sind tierliche Individuen an keinem Ort vom Sozialen „unberührt“; sie bleiben immer Tiere einer Gesellschaft von Menschen. Da ihre legitime Freiheit, ihr Können, auch möglich sein muss, Tiere die Potentialität haben müssen, Freiheit zu realisieren, sind Tiere in der „verwalteten Welt“ zum großen Teil auf ein Zutun von Menschen – Solidarität und Bereitstellung von Möglichkeiten – angewiesen. Eine mit Tieren solidarische Praxis wird jedoch durch benannte Dissoziierungs- und Desensibilisierungstechniken der speziesistischen Gesellschaft erschüttert. Wird das Unrecht an Tieren in einem Moment doch zu deutlich, dem Bewusstsein zu drängend, dass kognitive Dissonanz26 und emotionale Bewegtheit die Unbekümmertheit aufheben, mit der sonst am Elend der Tiere vorbeigesehen wird, entsenden die speziesistischen Institutionen ihre Demagogen, um mit Hilfe von Mythen die Dinge wieder ‚zurechtzurücken‘. Einer ist der Lupus- Mythos, die Mahnung an den „Naturzustand“, in dem Mensch und Maus und alle gegen alle Wölfe gewesen seien, in dem beständige Todesfurcht und der unbarmherzige Kampf ums Dasein geherrscht hätten. Und doch war selbst der Wolf nie des Wolfes Wolf. Auf den Lupus-Mythos zurückgegriffen, berichten Massenmedien von „Killerhaien“, „Killerminks“, „Kampfhunden“, „Ratten der Lüfte“ und dem „Problembär“. Die Angst vor dem Unbeherrschten ruft nach Ordnung. Das tierliche „Monster“ muss herbeigeredet werden, um die emotionale, kognitive und soziale Distanz zum Tier aufrecht zu halten, um die Opferung von Tieren nicht anzuzweifeln. „Das zu fressende Lebewesen muss böse sein“, so Adorno, „das Nichtich, l´autrui, schließlich alles an Natur Mahnende sei minderwertig, damit die Einheit des sich selbst erhaltenden Gedankens getrost es verschlingen darf“.27 (…)

Jeder einzelne Angriff eines tierlichen Individuums auf ein menschliches wird zum Angriff „der Tiere“ auf die Menschheit verallgemeinert, welcher den totalen gewaltsamen Zugriff der sozialen Institutionen auf ein jegliches tierliches Individuum rechtfertige, gleichsam als äquivalenter Tausch von Todesfurchten, der in Wirklichkeit extrem asymmetrisch ist. Ein Hundebiss legitimiere ein ganzes Zeitalter voller Qualen für Tiere, in dem jeder Tag ein dies ater ist. (…) In diesem (…) Betrug am Tier wird ihm seine Drohmöglichkeit zur Last gelegt, um ihm Solidarität zu verweigern, obwohl eben zuvor eine fehlende Drohmöglichkeit behauptet wurde, die Tiere als Adressaten von Gerechtigkeit ausschloss. In der Tat drohen Tiere nur ganz selten, all die Sklaven in den Tierfabriken ohnehin nicht. Wer ernsthaft behauptet, von auch nur einem der Hekatomben an Hühnern, Rindern, Fischen, Mäusen, Meerschweinchen…, die sekündlich von der Gesellschaft gewaltsam ausgelöscht werden, in seinem Leib und Leben bedroht zu sein, verdummt sich und beleidigt die Intelligenz der anderen. De facto üben sich die meisten Tiere in Tötungsverzicht. (…)

Die Aufklärung muss (…) auch im Sinne der Tiere zu Ende gedacht, zur Identität gebracht werden, weil der wahre Gedanke dazu zwingt. Und somit ist es Aufgabe, im Kampf um Tierrechte und Tierbefreiung an die Ideen der Aufklärung zu erinnern und diese für ein befriedetes Mensch-Tier-Verhältnis einzufordern; das heißt konkret: die Forderung nach Freiheit für Tiere (als Abwesenheit von durch Menschen zugefügte Gewalt und Vernichtung sowie von unvernünftigen Freiheitseinschränkungen) und nach Solidarität mit Tieren (als aktive Parteinahme und Hilfeleistung, insbesondere als Verteidigung ihres Lebens und ihrer Freiheit im Sinne der benannten kämpfenden Solidarität). Mit der Negation der Tierausbeutung muss das Ziel, die Tierbefreiung, als herrschaftskritische Forderung, auf den Weg gebracht werden, die auf die Umstürzung des bestehenden schlechten Ganzen drängt, um die in der Natur liegenden Versprechen einer vernünftigen Gesellschaft zu realisieren. Dass die Versprechen nicht tierlichen Individuen gegolten hätten, ist ein axiomatischer Fehltritt affirmativer Theorie gegen Tiere, die sich, wie ausgeführt, meist am Reziprozitätspostulat festklammert (Tiere würden auch nicht die Rechte von Menschen anerkennen), oder Rettungsbootszenarien konstruiert: Das Boot sei zu klein, und einer müsse raus. „Mensch“ oder „Tier“? Diese Szenarien, die stets an der Wirklichkeit vorbei schwimmen – Menschen sterben oder erkranken eben nicht, wenn es zum Beispiel keine Schlachthäuser und Tierversuchslabore mehr gibt -, sind mittlerweile Alltagswissen geworden: „Sollen dann Versuche am Menschen (oder gar an Kindern) durchgeführt werden?“ Rettungsboot- Szenarien gibt es in der Realität der Mensch-Tier-Beziehungen kaum – es gibt keine menschliche Not, die zwingend mit einem Opfertier beseitigt werden müsste. Sie sind somit meist nicht, wie der Begriff des Rettungsboots suggeriert, Entscheidungen in besonderen, auswegslosen Situationen, in denen Entweder-oder-Entscheidungen gefordert sind. Darum lassen sie sich nicht verallgemeinern oder gar zum Rezeptwissen verkochen. Das Boot ist den Menschen, denen ihr Innerstes – ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse, ihre Empfindungen, ihre Phantasie – durch die Gesellschaft verengt wurde, immer bereits zu klein; und die konstruierten Fremden, menschliche wie tierliche, werden über Bord geworfen. Weil menschliche Individuen die Potentialität hätten, größere oder eine größere Anzahl von Booten zu bauen, oder solche, die nicht so leicht sinken, auch schönere Boote, ist die Ausweglosigkeit aus dem dialektischen Moment der Aufklärung so unverständlich und nicht hinnehmbar. (…)

Da das Leiden aller „quälbaren Körper“ objektiv ist, zeigt sich die Beendigung absichtsvoll zugefügten Leidens dann auch nicht als aktionistische Irrfahrt, die ihre Mittel zu einem Fetisch erhöht, wie Adorno es an der Pseudo-Aktivität kritisiert,28 sondern als Praxis, der die Reflexion auf ihre Zwecke vorangegangen ist. Mit der direkten Stilllegung von Tierausbeutungsbetrieben, der Beseitigung der Werkzeuge der Henker, der Zerstörung der Tötungsmaschinen, der tat-sächlichen Öffnung der Fesseln und Käfige ist sogar nicht nur ein Mittel beschrieben, um Tierausbeutung zu negieren, sondern ist praktisch das Vernünftige erreicht: Befreiung. Dem Körper werden die Herrschaftsstrukturen, wie zu Beginn dargestellt wurde, eingeschrieben. Und mit dem Körper ist auch eine mögliche Grenze der Negation gegeben. Denn es lassen sich zwar die Einverleibungen, die „zweite Natur“ negieren, nicht aber die „erste Natur“, der Körper an sich, weil er damit zum Nichts würde. Der Körper ist immer etwas Positives. Es besteht folglich zumindest die Möglichkeit, den von Gewalteinwirkungen befreiten Körper als eine positive Aussage über die „vernünftige Gesellschaft“ anzugeben. Und aufgrund des Umstandes, dass, wie ausgeführt, der Zwang gegen den Körper von Tieren sich diesen äußerlich darstellt, nicht zu seiner „zweiten Natur“ wird, ist das tierliche Individuum (im Gegensatz zum menschlichen) in dem Moment vom Zwang der Gesellschaft befreit, in dem die Gewaltmaschine angehalten und es aus dem Käfig befreit wird. Somit lässt sich doch, entgegen Adornos Verneinung, Partikulares im Schlechten angeben, das zum Guten führt, auch wenn das Partikulare angesichts des Gigantismus des „bestehenden Negativen“ marginal erscheinen mag; für die betroffenen befreiten Tiere ist es das Ganze: ihr Leben. Die Zerstörung der Körper wäre nicht rückgängig zu machen, ihre Körper sind ihnen nicht substituierbar. Die Befreiung ihrer Körper macht Tiere zu Unterschiedenen, zu wahren Individuen, zu Anwesenden. Und als leiblich Anwesende bezeugen sie das ganze Leid, das ihnen zugefügt wurde und wird; der „Gewaltstreich der sozialen Welt“ wird an ihren Körpern sichtbar, damit wahrnehmbar und anklagbar. Auch darum verfolgen die staatlichen Autoritäten, Komplizen der Tierausbeutungsindustrie, Aktivisten, die Tiere direkt aus den Käfigen befreien, so repressiv.29 Tierbefreier machen die beschriebene Anonymisierung der Opfer und Täter rückgängig, lösen den Bann der Verdinglichung auf, stellen die Verweisungszusammenhänge wieder her, benennen Verantwortliche. Tierausbeutung erscheint nun nicht mehr als ein unabänderliches Verhältnis von Dingen, sondern als eines von Tätern und Opfern. Das tierliche Opfer verliert seine Warenförmigkeit, aus dem tierlichen ‚Ding‘ wird ein ‚Du‘, und als solches erkannt, drängen all die noch gefangenen ‚Dus‘ auf ihre Befreiung.

Erstveröffentlicht in „Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen“ 2007, S.313 ff., Hrsg. Susann Witt-Stahl, Alibri Verlag, Aschaffenburg

Anmerkungen

1 Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, Frankfurt /Main 1970, S.54

2 Dass „für die kritische Theorie […die] universal-emanzipatorische Ausrichtung“ konstitutiv sei, die tierliche Individuen ausdrücklich […] als Unterdrückte, Ausgebeutete, Erniedrigte der herrschenden Gesellschaft, ihrer Macht-, und Gewaltstrukturen erkannte – und Tiere nicht metaphorisch zur Darstellung „menschlicher Not“ verwendete-, darauf hat Birgit Mütherich eingehend hingewiesen (Birgit Mütherich, Die Problematik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie: Weber, Marx und die Frankfurter Schule, Münster 2000,S.150ff)

3 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Frankfurt /Main 7/8.Aufl.,1969, S.251.

4 Max Horkheimer, zit. nach :Carl-Friedrich Geyer, Kritische Theorie: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Freiburg i.Br/München 1982, S66.

5 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt /Main 2003, S.16

6 Ebd.,S.58.

7 Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, Frankfurt /Main 1970, S.51.

8 Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt/Main 1986, S. 23ff.

9 Vgl. z.B. Nick Fiddes, Fleisch – Symbol der Macht, Frankfurt/Main 3.Aufl 2001.

10 Theodor W.Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1975 ,S.339.

11 Pierre Bourdieu, „Die männliche Herrschaft“, in: Ein alltägliches Spiel, hrsg. von Irene Dölling/Beate Krais, Frankfurt/Main 1997, S.168.

12 Ebd., S.165.

13 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/Main (17) 2000, S.112ff.

14 Bourdieu, „Die männliche Herrschaft“, in :Ein alltägliches Spiel,(s.Anm11), S.153

15 Theodor W.Adorno, Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders. Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno/Susan Buck-Morss/Klaus Schultz, Frankfurt/Main 2003,Bd.4, S.116.

16 Der Begriff „Adiaphorisierung“ geht auf Zygmunt Baumann zurück, zit. nach Rainer E. Wiedenmann, „Die Fremdheit der Tiere. Zum Wandel der Ambivalenz von Mensch-Tier-Beziehungen“ ,in: Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, hrsg. von Paul Münch/Rainer Walz, Paderborn(u.a.) 2.Aufl.,1999, S.375.

17 Vgl.Geyer, Kritische Theorie, (s.Anm. 4), S.121.

18 Adorno, Negative Dialektik, (s.Anm. 10), S.385.

19 Vgl.Reinhard Kager, Herrschaft und Versöhnung: Einführung in das Denken Theodor W.Adornos, Frankfurt/Main / New York 1988,S.87.

20 Max Horkheimer, „Kritische Theorie gestern und heute „, in: ders., Gesellschaft im Übergang. Aufsätze, Reden und Vorträge 1942 -70, hrsg. von Werner Brede, Frankfurt/Main 1972,S.164.

21 Herbert Marcuse, „Repressive Toleranz“, in: Robert P. Wolff/Barrington Moore/ Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt/Main 10.Aufl.,1982,S.93.

22 Ebd., S.99 [Hervorh.gem Orig.].

23 Horkheimer spricht ebenfalls von einem „inmitten der Gesellschaft pausenlos begangenen Übermaß an Folterungen“ an Tieren (Max Horkheimer, „Erinnerung“, in: Das Recht der Tiere, Heft 1/2, München 1959,S.7,zit.nach Mütherich, Die Problematik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie, [s.Anm.2].

24 Vgl. Peter Imbusch, „Der Gewaltbegriff“, in: Internationales Handbuch der Gewaltforschung, hrsg. von Wilhelm Heitmeyer/John Hagan, Wiesbaden 2002, S.52(Vgl. auch Michael Fischer, „Mensch-Tier-Vergleiche und die Skandalisierung von Gewalt „, in: Kriminologisches Journal, Jg.33, Heft 1,2001,S.2-6)

25 Der Begriff der „Unverfügbarkeit“ wird hier in Anlehnung an Annette Barkhaus und Anne Fleig gebraucht (Annette Barkhaus/Anne Fleig, „Körperdimensionen oder die unmögliche Rede von Unverfügbarem“, in Grenzverläufe. Der Körper als Schnittstelle, hrsg. von Barkhaus/Fleig, München 2002, S.20-23).

26 Der Begriff der „kognitiven Dissonanz“ entstammt der sozialpsychologischen Dissonanztheorie von Leon Feistinger (1957).

27 Adorno, Negative Dialektik, (s.Anm.10),S.33.

28 Theodor W.Adorno, Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt/Main 1969, S.181

29 Die Wut aufs tierliche Opfer, die an anderer Stelle erklärt wurde, wendet sich nun gegen Tierrechtsaktivisten und Tierbefreier – sie seien „Monster“, „Terroristen“. In den USA wurde 1992 ein Bundesgesetz zum Schutz von Tierausbeutungsbetrieben, Animal Enterprise Protection Act, erlassen, das jeden erfolgreichen Versuch, Tierausbeutungsbetrieben wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, z.B. durch die direkte Befreiung von Tieren, als „Animal Enterprise Terrorism“ verfolgt (Animal Enterprise Protection Act of 1992. Public Law 102-346-Aug., 1992,102nd US Congress, in: http://www.nal.usda.gov/awic/legislat/p1102346.htm [13.7.2005]). Inzwischen hat auch das Vereinigte Königreich von England direkte Aktionen der Tierrechtsbewegung/Tierbefreiungsbewegung gesetzlich unter Terrorismus gefasst.